Fremder, kommst du in dieses Land zieh dich warm an. Es ist kalt in Deutschland.
Das wichtigste vorweg: Alles was ein Mensch in diesem Land erreichen kann beruht auf einem Stück Papier. Etwas wie eine Banknote: Es ist bedruckt, trägt eine Unterschrift und ein Siegel. Nur mit dem Unterschied, daß es für jede Gelegenheit eine eigene Währung gibt.
Ich rede von unserer Verwaltung. Die beschränkt sich bei uns nicht auf die staatlichen Organe sondern ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Was nirgendwo geschrieben steht existiert einfach nicht. Genau genommen existiert es natürlich schon, aber niemand wird aufgehalten der das so lange ignoriert bis dessen Existenz mit einem Dokument bewiesen wurde.
Geliebte Dokumente
Wenn hier jemand sein Auto an den Nachbarn verkauft schreibt er das auf zwei Stücke Papier und beide unterschreiben. Wer zusätzlich einen Stempel möchte kann zu einem Notar gehen. Eine seiner Aufgaben besteht gewissermaßen darin, aus einem beschriebenen Stück Papier ein „Dokument“ zu machen. Selbst wenn wir uns zusammentun um gemeinsam etwas zu unternehmen tun wir das nicht einfach sondern wir Gründen einen Verein. Ja es gibt hier tatsächlich ein eigene Gesetze darüber, wie wir uns das verschwenden unserer Zeit gegenseitig bescheinigen dürfen.
Der aufmerksame Leser wird sich denken können wie das vor sich geht: Mindestens 3 Leute schreiben was sie Vorhaben auf ein Stück Papier. Aber dies ist kein Vertrag wie beim Autokauf sondern eher eine kleine Verfassung. Deswegen unterschreibt nur einer und der ist dann der Chef. Fehlt noch der Stempel. Um einer Behörde einen Stempel abzuringen muß man zunächst herausfinden welches Gesetzbuch es verwaltet. Jedes Gesetzbuch ist einer bestimmten Behörde zugeordnet. Man sagt auch: die Behörde ist zuständig. In diesem Falle trägt sie den neuen Verein in eine Liste ein und erlaubt ihm damit ein eigenes Siegel zu führen. Das ist im Grunde ein Stempel, nur daß dieser eben in einer staatlichen Behörde registriert ist. Nun kann so ein Verein eigene Dokumente erstellen indem er Dinge auf Papier schreibt die der Chef unterschreibt und Stempelt.
Gelebte Dokumente
Dokumente sind in diesem Land so wichtig, daß sich ein Blick auf das wichtigste von ihnen lohnt. Das erste im Leben und das wichtigste ist die Geburtsurkunde. Sie macht ein Bündel schreienden Lebens zu einem Staatsbürger. Sie bestimmt wie du heißt und beweist wer deine Familie ist. Sie beweist auch wo du geboren wurdest und von wem. Sie ist so wichtig, daß es natürlich auch hier eine Behörde samt Register gibt. Die Urkunde ist nichts anderes als ein Auszug aus diesem Register, unterschrieben von einem zuständigen Beamten und gestempelt von einer zuständigen Behörde.
Auch hier gilt das selbe Prinzip: hast du keine, weil der zuständige Beamte von Saringas getötet und die zuständige Behörde von Faßbomben zertrümmert wurde existierst du nicht. Genau genommen existierst du natürlich schon, aber niemand kann einen Beamten daran hindern das zu ignorieren bis ein entsprechendes Dokument vorliegt. Je stärker du darauf beharrst, daß du existierst, nur weil du vielleicht atmest und deine Fäuste ballst, je mehr geht der Beamte davon aus, daß du ihm etwas falsches erzählen willst. Denn wäre es richtig was du sagst könntest du die entsprechenden Dokumente ja vorlegen. Der Unterschied zu anderen Ländern besteht hier wohl darin, daß die Beamten hierzulande das nicht (unbedingt nur) tun um bestochen zu werden, sondern weil sie einen Job machen für den sie sich streng bürokratisch aber niemals moralisch werden rechtfertigen müssen.
Die anderen Leute
Doch da ist noch etwas: Hier leben 80 Millionen Menschen auf 350.000 km². Der nächste Staat mit dieser Bevölkerungsdichte ist Indien. Dabei gibt es hier keine großen Wüsten oder Karstgebiete. Das heißt fast egal wo du dich in diesem Land hinstellst, wenn du bis zum Horizont sehen kannst hält sich mit 90% Sicherheit in diesem Bereich mindestens ein Mensch auf. Man kann sich hier nicht wirklich aus dem Weg gehen. Bei so vielen Menschen gibt es zwangsläufig teilweise beträchtliche Unterschiede. Je nachdem wohin man kommt können Sitten und Gebräuche ziemlich unterschiedlich sein. Zum Beispiel neigen Menschen aus dem Süden eher dazu sich auch unter Fremden Gesellschaft zu leisten, während nördliche sich lieber aus der Distanz beobachten oder „ihre Ruhe“ bevorzugen. Doch das ist erst der Anfang: Jede Region scheint im Miteinander ihren eigenen Charakter zu haben. Diese Unterschiede sind alle nicht wirklich groß oder wesentlich. Sie sind uns nur ungeheuer wichtig. So wichtig, daß unser Staat noch heute eine Föderation unabhängiger Regionalverwaltungen ist, jede mit einem eigenen kleinen Parlament und einer eigenen kleinen Verfassung obwohl die Unterschiede sich größtenteils auf Formulierungen und Parteifarben beschränken.
Zusätzlich gibt es genau wie in Indien auch hier große Unterschiede innerhalb der Gesellschaft. Allerdings ist der Umgang hier damit etwas anders. Während die Leute in Indien sich ihrer Zugehörigkeit zu eine bestimmten Gruppe sehr bewußt sind (was auf die Dauer eher zu Spannungen und Gewalt führt) glauben hier alle Menschen mit ihrem jeweiligen kleinen Umfeld Teil einer überwiegenden Mehrheit zu sein.
Die anderen Menschen
Wir sind hier geografisch an einer Stelle die der letzte große Staatsmann dieses Landes, Helmut Schmidt, einmal als das „die Mitte Europas“ bezeichnet hat. Jeder der sich durch Europa bewegt kommt irgendwann hier vorbei. Immer wieder sind im Laufe der Zeiten Gruppen von Menschen hier eingefallen, entweder mit einem anderen Ziel vor Augen nur ein paar Aussteiger zurücklassend oder um sich ganz hier niederzulassen (wahlweise mit oder ohne die Bevölkerung niederzumetzeln). Die Spezies Mensch (Homo Sapiens) selbst war hier anfangs ein fremdes Wesen, von bereits hier lebenden Vormenschen (Homo neanderthalensis) vermutlich mißtrauisch beäugt, schon allein wegen der Hautfarbe und der merkwürdigen Statur. Von den seltsamen Bräuchen und dem übermäßigen Gebrauch dieser fremd klingenden Sprache ganz zu schweigen. Offensichtlich haben wir diesen Ahnen mehr als nur unsere Hautfarbe zu verdanken.